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Über 600 handgeschriebene Notizen von den Strassen Europas – verlorene oder weggeworfene Einkaufszettel und Liebesbezeugungen, Drohungen und Gedichte, Rechnungen und Strafzettel.
154 Gedanken, Gedichten und Geschichten.
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Fliegende Handtaschen sind in Bern ein seltenes Phänomen, aber letzten Donnerstag, der wegen des Nebels kaum zu durchschauen war, hatte ich das Glück, einige Exemplare beobachten zu können.
Ich schlenderte gerade durch die Arkaden der Altstadt um mir bei einer Confiserie die tägliche Zuckerration in Form einer Nussecke zu verabreichen, als die erste Handtasche um die Ecke bog. Ein Pappschild mit der Aufschrift “Dies ist eine geteilte Tasche. Elisabeth und Li” hing an ihrem Henkel. Verdutzt blieb ich stehen und fragte mich, ob es nun endgültig mit der Normalität vorbei war oder ich nur das bedauernswerte Opfer einer verrückten Werbestrategie sei, die ferngesteuerte Konsumanreize zur Verwirrung der Sinne durch die Stadt jagt.
Gleich darauf flitzte eine abgewetzte, braune Ledertasche an mir vorbei, streifte mich fast und dass sie mich nicht anpöbelte, ich solle gefälligst nicht so doof im Weg stehen, war alles. Jetzt kamen sie von überall her, die meisten jedoch aus der Richtung des Bahnhofs, was mich zu der Überlegung veranlasste, ob es hier womöglich eine Art Handtaschen-Konferenz gab und Bern auch im subkulturellen Bereich ein diplomatisches Epizentrum bildet. Ich wurde neugierig: wohin eilten die Getriebenen? Ich ließ Nussecke Nussecke sein und folgte dem mittlerweile zu einem regelrechten Mob angewachsenen Haufen in Richtung Bärengraben. Sie waren schnell und auf der steilen Nydeggtreppe musste ich zwei Stufen auf einmal nehmen um sie nicht zu verlieren. Ich rannte an der Aare entlang Richtung Marzili und keuchend fragte ich eine fliegende Weggefährtin, was denn der Grund der Eile sei. Sie schnappte nur kurz mit ihrem goldenen Verschluß und zeigte mir die kalte …äh…Rückseite oder was sie da hatte.
Mittlerweile war die ganze Straße voll mit Handtaschen. Teuere, schwarze Gucci-Modelle gesellten sich zu den stereotypen Louis-Vuittos und Michael Kors, und während etwas abseits einige ältere Etienne-Aigners in angeregter Unterhaltung mit den Coco-Chanels flanierten, sauste ein bunter Haufen aus abgeschabten Kunstledertaschen, ökologisch nachhaltigen Recyclingmodellen, Kinderstofftäschchen und anderen Beuteln laut klappernd und lachend an mir vorbei.
Ich rannte, bis mich ein immer stärker werdendes Seitenstechen zum Anhalten zwang. Ich schrie sie an, die Nachzügler, mit erstickter Stimme, wohin sie denn um Gottes Willen wollten, was ihr Auftrag sei und woher sie überhaupt kamen. Nichts, keine Antwort. Nur ein paar Passanten, die mich befremded musterten, flüsterten Unverständliches. Mittlerweile war auch die letzte Tasche hinter dem von Nebelschwaden durchbrochenen Horizont verschwunden und traurig drehte ich mich um. Ob man mir helfen könne, fragte einer der Umstehenden. Das hätte er mal die Handtaschen fragen können, schnauzte ich ihn an und ließ ihn stehen.
Zurück in der oberen Altstadt hatte ich nicht mal mehr Lust auf ein süßes Stückchen, so enttäuscht war ich über meinen gescheiterten Versuch, mehr über die Taschen zu erfahren. Und dann sah ich sie: eine mittelgrosse Louis-Vuitton, die auf einer Bank stand oder sass und so provokant unschuldig vor sich hinschaute, dass die Wut in mir aufstieg. „Nicht mit mir“, dachte ich und schlich mich vorsichtig an, versteckte mich hinter einem Sicherungskasten und packte sie dann flugs am äh….Henkel. Ich schüttelte die Delinquentin und schrie sie an: “Wo trefft ihr euch? Was macht ihr da? Was habt ihr vor, du und deine Freundinnen?” Wie zu erwarten war, gab sie keine Antwort, also drückte ich sie mit aller Kraft auf den Asphalt um sie zur Aussage zu zwingen. Hinter mir gab irgendeine Frau laut kreischende Töne von sich, aber ich ließ mich nicht ablenken und gab der Tasche ein paar kräftige Ohr….äh…. jedenfalls klimperte der Inhalt wild durcheinander als mich plötzlich zwei schraubstockartige Arme packten und in die Luft hoben. Ich protestierte lauthals, aber meine Erklärungsversuche wurden ignoriert und unter den neugierigen Blicken der Umstehenden schleiften mich die Uniformierten tatsächlich auf die Polizeiwache.
Dort saß ich dann auf einer unbequemen Holzbank, was soll man machen? Dumpf glotzte ich vor mich hin, als auf einmal eine überschminkte Mittvierzigerin in hochhackigen Schuhen hereingeführt wurde und – ich lüge nicht – an ihrem Arm hing ein schwarzglänzendes Krokodillederimitat. Ich zögerte keinen Augenblick. Mit einer schnellen Bewegung riß ich ihr das Täschchen vom Arm und flüchtete mit ein paar langen Sätzen aus der noch halb geöffneten Tür. Die Polizisten nahmen die Verfolgung auf, aber ich schlug ein zwei hasenhafte Haken, hastete um ein paar Ecken und weg war ich.
Zuhause angekommen verdunkelte ich die Fenster, schloss die Tür ab und schaltete meine elektronischen Kommunikationsmittel aus, um ungestört zu sein. Ich stellte mich auf ein längeres Verhör ein. Jetzt sitze ich seit ein paar Tagen in meinem Wohnzimmer, das Täschchen vor mir auf dem Tisch als könnte es kein Wässerchen trüben und trotzig schweigt es vor sich hin. Das wird ein zäher Kampf, aber ich bin geduldig und habe genug Vorräte im Haus…
http://blog.derbund.ch/hauptstaedter/index.php/category/zettelwirtschaft/
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seit 07.01.2015 monatlich 2 x im eigenen Blog die Kurzgeschichten zur „Zettelwirtschaft“
Auftraggeber: „Der Bund“ / Interview zur neuen Serie:
http://www.derbund.ch/kultur/diverses/Viel-Papier-fuer-Gefuehle——/story/13987760